Zarwuun – das Geheimnis des magischen Schwertes
Der Fremde
Tiraja lugte durch das Treppengeländer hinunter ins Foyer des Herrenhauses. Die Stimme des Fremden klang wie ein Flüstern. Gespannt versuchte sie, etwas zu verstehen, doch sie war noch zu weit vom Gespräch entfernt.
Auf Zehenspitzen schleichend bewegte sich Tiraja weiter die alte Holztreppe hinunter. Die Stimmen im Foyer wurden lauter, aber sie konnte die Worte ihres Onkels und des Fremden nicht richtig verstehen. Ihr Herz schlug schneller, als das Knarren einer alten Diele unter ihren Füßen erklang. Tiraja duckte sich vor Schreck, hoffend, dass man sie durch das dicke Geländer nicht erkennen würde. Sie hielt den Atem an.
„Nein, dies kommt nicht infrage!“, hörte Tiraja ihren Onkel Tairon dem Fremden zurufen.
„Es tut uns sehr leid, wie sich damals die Dinge mit Ekuldo entwickelt haben, aber du kannst ihr Schicksal nicht verhindern. Wir brauchen sie und den Dolch. Es ist nicht mehr viel Zeit! Die Sonnenfinsternis ist bereits in zwei Vollmonden und sie ist noch nicht mal aktiviert“, antwortete der Fremde mit sanfter Stimme. Die beiden standen am anderen Ende des Foyers. Die seidige, weiße Robe des Fremden schimmerte im Licht, welches durch das große Fenster drang.
„Ihr habt Schuld daran, dass Ansum zerstört wurde. Wenn ihr damals bei mir aufgetaucht wärt, so wie versprochen, wäre es nie so weit gekommen. Ihr bekommt Tiraja nicht! Nun verschwinde aus meinem Haus. Sie solchen Gefahren aussetzen zu wollen, ist purer Wahnsinn. Wachen!“, rief Tairon erzürnt. Zwei großgebaute Männer mit schimmernden Rüstungen kamen ins Foyer gestürmt.
„Zur Stelle, General!“, ertönten ihre Stimmen im Einklang. Unbeeindruckt von Tairon schlenderte der Fremde einige Schritte zurück.
„Nun gut, ich sehe, du bist nicht zu überzeugen!“, erkannte der Fremde. Er erhob seine Arme. „Gaspo ep hon“, sprach er und im nächsten Augenblick verschlang ihn ein bunter Lichtkreis.
Tairon winkte seinen Wachen ab und diese verließen daraufhin das Foyer.
„Tiraja, du bist bereits von deinem Ausritt zurück?“, wunderte sich Tairon, als er auf die Treppe zulief.
„Wer war das, Onkel Tairon?“
„Nur ein alter Vertragspartner, ist nicht weiter wichtig. Es gibt bald essen, zieh dich bitte um und komm zu Tisch.“
Wortlos drehte sich Tiraja um und ging auf ihr Zimmer.
Noch eine ganze Weile saß Tiraja auf ihrem Bett und überlegte, bis sie vor Zorn aufsprang. Sie lief hinüber zu ihrem Kleiderschrank und zerrte die Tür weit auf. Mit dem Finger strich Tiraja über die verschiedenen Gewebe ihrer Kleider, bis sie eines aus der Garderobe auswählte. Hastig zog Tiraja sich um. Während sie sich im Laufen ihren letzten Schuh anzog, knallte sie gegen ihre Truhe, die neben dem gefüllten Bücherregal stand. Knarrend sprang diese von selbst auf.
Da liegt es, das Erbstück meines Vaters. Ist es das, was der Fremde wollte? Diesen Dolch?, dachte Tiraja.
Die Zimmertüre öffnete sich. Vor Schreck schloss sie abrupt die Truhe.
„Tiraja, das Abendessen ist serviert. Euer Onkel erwartet Euch!“, sprach die alte Dienstmagd.
„Danke! Ich komme sofort“, erwiderte Tiraja mit rotangelaufenem Gesicht und verschränkte die Hände hinter ihrem Rücken.
„Liest du gerade etwas Interessantes?“, brach Tairons Stimme das Schweigen.
„Nein, ich habe bereits alles mehrmals gelesen. Warum weichst du mir immer aus? Das vorhin mit dem Fremden, warum hat er meinen Namen und den Dolch von Vater erwähnt? Was ist es, das du mir nicht sagen willst?“
„Ich habe dir doch gesagt, es ist nichts, worüber du dir Gedanken machen solltest. Nun will ich nichts mehr davon hören!“
Tirajas Miene verzog sich, als sie in ihrem Essen mit der Gabel stocherte.
„Sehr hübsch, dein rotes Kleid, ist das neu? Die Rosenbordüre gefällt mir besonders. Erinnert mich an das Wappen von Ansum“, sprach Tairon, um die Stimmung zu lockern.
„Das sind also die Themen für den heutigen Abend? Bücher und Kleidung?“
„Geeignete Themen für ein entspanntes Abendessen! Wenn du dich so langweilst, warum unternimmst du nicht morgen etwas mit Laysa?“, erwiderte Tairon mit hochgezogener Augenbraue.
„Laysa vom Privatunterricht? Sie hat Hysaria längst verlassen. Sie geht auf eine Universität im Osten. Außerdem waren wir nicht befreundet. Es gibt hier niemanden mehr in meinem Alter. Du lässt mich nicht einmal Hysaria verlassen.“
„Zu deinem eigenen Schutz. Dort draußen lauern seit dem großen Ereignis unzählige Gefahren. Von Ungeheuern und Portwesen des dunkeln Magiers ganz zu schweigen. Wenn Laysas Vater meint, er müsse seine Tochter dem aussetzen, muss er es auch verantworten.“
„Ich bin einundzwanzig Jahre alt. Wie lange willst du mich noch hier festhalten?“
„Sprich nicht von mir, als wäre ich dein Kerkermeister.“
„Du hast mir nie wirklich erzählt, wie meine Eltern gestorben sind! Bei einem Brand hast du mal erwähnt. Kannst du dir nicht denken, dass ich mich frage, wo ich herkomme?“
„Heute bist du sehr hartnäckig mit deinen Fragen.“
„Und du bist stur wie immer. Es ist offensichtlich, dass du mir Dinge verheimlichst. Ich bin kein kleines Kind mehr.“
„Dafür benimmst du dich aber wie eines. Nun ist Schluss damit, sonst schicke ich dich wie ein Kind auf dein Zimmer.“
„Das brauchst du nicht. Ich gehe von allein“, rief sie und warf ihre Serviette neben den Teller, stand auf und ließ ihren Onkel am Tisch allein zurück.
Die Abenddämmerung brach an und Tiraja suchte in ihrem Zimmer Gegenstände zusammen, die sie für ihren Ausbruch benötigte. Sie lief zu der Truhe, öffnete den Deckel und entnahm einen silbernen Gürtel mit Tasche, aus der eine Karte herausschaute. Sie zog die Karte aus der Tasche und entfaltete diese.
Die Weltkarte von Zarwuun., dachte Tiraja, als sie sie betrachtete. Rasch steckte sie diese zurück in die Gürteltasche.
Als sie den Gürtel um ihre schmale Hüfte band, schlug der daran angebrachte Dolch gegen ihren Oberschenkel. Im Kerzenschein schimmerte der Griff ihres Drachendolches in allen Regenbogenfarben aus dem silbernen Futteral. Sie griff nach Wasser, Käse und Brot auf ihrer Kommode, die sie sich zuvor aus der Küche entnommen hatte, und verstaute diese in der Tasche.
Ihr Onkel schlief bereits, als sie die Tür zum Flur öffnete. Sie huschte leise durch das dunkle Herrenhaus und stieg die knarrende Treppe hinunter. Sie lief am Kamin im Wohnzimmer vorbei, griff den darauf liegenden Feuerstein und packte diesen zu den anderen Gegenständen. Durch die Hintertür gelangte sie in den Garten, der zum Pferdestall führte. Darin lebten zwei Hengste, die Tairon und Tiraja gehörten.
Tentar, ihr schwarzes Pferd, wieherte leise, als sie im Mondlicht das Stalltor öffnete. Sanft strich Tiraja ihrem Ross über die strubbelige Mähne. Sie drehte sich um und zog den braunen Ledersattel von einer alten Werkbank. Vorsichtig legte sie diesen und das Zaumzeug an. Sie nahm Tentars Zügel und schritt mit ihm durch das Stalltor hinaus. Leise schloss sie es hinter sich und hielt davor kurz inne. Tiraja holte einen tiefen Atemzug, drehte sich um und lief mit Tentar durch den vom Mondlicht beschienenen Garten.
Immer mehr Wolken schoben sich vor den Mond und die Sicht verschlechterte sich schnell. Sie kam zu den hohen Hecken, die das Grundstück komplett umgaben, und öffnete das eiserne Gartentor. Dieses war nur angelehnt und Tiraja zog Tentar achtsam an seinem Zügel hinter sich her, bis sie beide außerhalb der Hecken standen. Ein lauer Wind ließ die Blätter der Bäume sanft rascheln, ansonsten vernahm man in der nächtlichen Stille keinen Ton.
Tiraja schwang sich auf Tentar und trabte mit ihm durch die kopfsteingepflasterten dunklen Gassen. Ihr Plan, die hohe Mauer, die die Stadt Hysaria rundherum beschützte, zu überwinden, lag nur noch ein paar Schritte von ihnen entfernt. Als General von Hysaria und des westlichen Hafens hatte Onkel Tairon die Befehlsgewalt, einige Wachen am Ein- und Ausgang zu postieren. Diese achteten darauf, dass nur befugte Kaufleute Hysaria betreten durften.
Am Ende der Gasse lag eine große Wiese, auf der vereinzelte Bäume und Büsche standen. Tiraja erkannte von weitem die Stadtgrenze zum Tor. Sie stieg, kurz bevor die Wachen sie bemerken konnten, vom Pferd und holte den Feuerstein aus ihrer Gürteltasche. Sie band Tentar mit dem Seil an einen Baum neben ihr. Er begann sogleich, zu grasen. Tiraja ließ ihn stehen und lief zu einem vertrockneten Busch, zog ihren Dolch aus dem Futteral und rieb den Stein darüber. Funken fielen auf das welke Gewächs und nur wenige Zeit später stand der Busch in Flammen. Tiraja sputete zurück zu Tentar, löste das Seil, sprang auf und sie trabten zwischen die umliegenden Bäume, die kurz vor der Mauer wuchsen. Die Dunkelheit tarnte die beiden und sie beobachteten das Geschehen.
Es dauerte nicht lange, da drang eine laute Stimme an ihr Ohr: „Oh nein, Feuer! Schnell, wir müssen es löschen. Helft mir.“
Die zwei Wachen vor dem Eingang kamen durch das Tor zu den anderen gestürmt und sprangen zusammen zu den Flammen.
„Los, holt Wasser, das Feuer breitet sich zu schnell aus“, schrie einer der Wächter. Vor lauter Aufregung vergaßen sie, das Tor hinter sich zu schließen, und der Ausgang lag frei.
Tiraja nutzte die Gelegenheit und trabte unbemerkt durch die Bäume Richtung Mauer. In der Dunkelheit loderte das Feuer, das sich stärker ausbreitete. Sie drehte ihren Kopf angespannt nach rechts und links, um sich zu vergewissern, dass sie von niemandem gesehen wurde, wenn sie die Pforte durchritt. Fester nahm sie die Zügel ihres schwarzen Pferdes in die Hände und beschleunigte den Trab. Das Flackern des lodernden Feuers erhellte die hohe Mauer, sodass sie den unbewachten Durchgang erkennen konnte. Ohne zu zögern, trabte Tentar mit seiner Reiterin durch das offene Tor, hinaus aus Hysaria.
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